Der nächste
Tag hat ähnlich angefangen wie der vorherige aufgehört hat. Ich wollte
zum Blumenmarkt an der Howrahbrücke. Da kann man ein ganzes Stück mit
der Metro fahren und den Rest dann mit dem Taxi. In Kalkutta fangen die
Menschen erst sehr spät mit der Arbeit an, will sagen, Rush hour ist
nicht zwischen 7.00 und 9.00, sondern zwischen 9.00 und 11.00 Uhr… Das
ist natürlich gerne die Zeit, in denen völlig ahnungslose Touristen
ebenfalls ihren Tag beginnen wollen.
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Blumenmarkt, Kalkutta |
Lange Rede,
kurzer Sinn – meine Metrostation Dum-Dum ist Endhaltestelle. Da sollte
man meinen, dass man zumindest einen Stehplatz in der Metro bekommen
sollte… Von wegen. Den ersten Zug hab ich gleich mal ohne mich fahren
lassen. Beim zweiten Zug stand ich relativ weit vorne, konnte also gut
einsteigen. Aussteigen? Das ist natürlich dann nicht so praktisch…. Ich
hatte mich zwar bis auf ca 2 Meter an die Türe herangekämpft, aber an
meiner Haltestelle Central war kein Drandenken, dass ich aussteigen
könnte! Etwa 30 – 40 Menschen blockierten die 2 Meter bis zur Türe… Also
eine Station später – das war leichter, weil da eh mehr Leute
aussteigen wollten! Himmel, sowas kennt man zur Not vom Fernsehen, von
Tokio oder so… wobei da die Menschen nicht so drängeln wie hier.
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Blumenmarkt, Kalkutta |
Wie auch immer,
lustig war es allemal und ob ich jetzt mit dem Taxi 3 oder 5 Kilometer
fahre – auch egal!
Ganz davon
abgesehen – der Blumenmarkt ist die ganze Aktion auf jeden Fall wert! So
viele bunte Farben, Gerüche, liebenswerte Menschen, so viele
Lastenträger, Rikschafahrer und völliges Choas. Man muss es einfach
mögen.
Die
Einwohner von Kalkutta reagieren auch ganz anders auf eine Kamera als
z.B. in Varanasi oder anderen touristischen Gebieten. Wer fährt denn
schon nach Kalkutta, hat die Stadt bei uns doch nach wie vor den Ruf,
ein riesiger Moloch zu sein mit vielen Bettlern und Menschen, die auf
der Straße leben – kurz und gut, wie Grass es mal formuliert hat:
Kalkutta ist der größte Scheißhaufen Gottes!
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Victoria Memorial, Kalkutta |
Weiß der
Himmel, wo Herr Grass da war. Nun gut, das war vor über 10 Jahren.
Trotzdem – die Stadt hat viel zu bieten, halt nicht auf den ersten
Blick. Natürlich gibt es hier die meisten Slums – etwa 2000 registrierte
und 3500 nicht registrierte. Bei uns gilt ein Slum als die schlimmste
Art zu wohnen. Nur – was ist mit denen, die sich noch nicht mal eine
Hütte im Slum leisten können? Die Pavement dweller? Das sind die
Menschen, die auf dem Gehsteig schlafen, den sie – wohl gemerkt – mieten
müssen!!! Oftmals ganze Familien, manchmal mit einem Stück Plastikplane
als Schutz gegen kalte Winternächte, heiße Sommer oder den Monsunregen
zwischen Juli und September. Das sind die wirklich Armen – das ganze
Leben spielt sich auf der Straße ab. Wer keine Hütte hat, hat
logischerweise auch kein Bad – alles spielt sich in der Öffentlichkeit
ab. Und wir sprechen hier von ein paar Millionen Menschen, die so leben.
Aber
deswegen der größte Scheißhaufen Gottes? Mitnichten. In Kalkutta ist
nicht nur die indische Metropole des Drecks, sondern auch die der
Kultur. Es gibt jede Menge Galerien, in denen einheimische und
ausländische Künstler ausstellen, der Schriftsteller und erste indische
Nobelpreisträger Rabindranath Tagore lebte hier (sein Haus ist heute ein
Museum mit tollen Ausstellungsstücken und vielen Fotos aus seinem
Leben), dann gibt es in der Collegestreet das größte Antiquariat der
Welt. Erstaunlich, was sich in den Bretterbuden alles an Literatur
findet – ideal für die Studenten der nahen Universität.
Mitten in
einem Wohngebiet liegt der Marble Palace. Das Ganze bröckelt genauso vor
sich hin, wie die anderen Gebäude der Stadt. Das Gelände ist riesig und
im dazugehörigen Garten gibt es einen Zoo mit bedauernswerten Vögeln
und anderen Tieren in Kleinstgehegen. So viel Platz wie der Marmorpalast
haben in Kalkutta sonst nur Regierungsgebäude und Tempel zur Verfügung.
Immerhin leben in Kalkutta normalerweise auf einem derart großen
Grundstück mehrere tausend Familien.
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Kumartuli, Kalkutta |
Im Inneren des
Palastes stehen jede Menge Marmorstatuen aus Europa. Viele von ihnen
nackt – Nacktheit ist im Land des Kamasutra und der erotischen
Tempelskulpturen heute ein Skandal. Außerdem gibt es viel belgisches
Glas, Mingvasen, Kronleuchter und Spiegel – und Gemälde von Tizian und
Rubens!
Mit Abstand
die wichtigste Sehenswürdigkeit und der Stolz der Einheimischen ist das
Victoria Memorial im Herzen der Stadt. Das Gebäude ist aus weißem Marmor
erbaut und nach der britischen Königen benannt. Heute ist im Victoria
Memorial ein Museum untergebracht – sehr viele Fotos aus der Zeit der
Erbauung, Gemälde wichtiger Persönlichkeiten, Miniaturen, Waffen….
So toll das
Gebäude aussieht – für mich waren die belebten Straßen, die Märkte und
das ganz normale Leben in Kalkutta deutlich spannender. Zum Beispiel in
Barabazar – einem klaustrophobisch engen Gassengewirr mit vielen kleinen
Geschäften, Marktständen, jeder Menge Einkaufslustiger und
Lastenträgern mit wahnwitzig großen Lasten auf dem Kopf oder hoch
aufgetürmt in Lastkarren.
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Kumartuli, Kalkutta |
Die Menschen
in Kalkutta sind besonders gläubig. Es gibt kaum eine Straße, in der
nicht zumindest ein blumengeschmückter Schrein, ein religiöses Symbol
oder ein Bild von irgendeiner Gottheit zu finden ist. Auch die Ärmsten
der Armen spenden noch Unsummen für ihre Seelenheil.
In Kalkutta
gibt es einen ganzen Stadtteil, der von der Gläubigkeit der Menschen
unmittelbar lebt. In Kumartuli werden das ganze Jahr über
Götterskulpturen aus Stroh und Lehm hergestellt. Je nach Größe kosten
die bis zu 200.- Euro. Besonders viel gearbeitet wird hier vor dem
großen Kali-Fest im Oktober – dann werden tausende Statuen gefertigt,
die nach dem Fest in den Ganges geworfen werden.
Dieser
Stadtteil ist eine Oase der Ruhe – einfach den Künstlern beim Herstellen
der Skulpturen zuschauen, wie sie den Lehm auftragen, glatt drücken,
mit Stoffbahnen umwickeln und am Schluss die Statuen mit bunten Farben
bemalen.
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Rikscha, Kalkutta |
Natürlich
gibt es in Kalkutta viele Märkte für bunte Tücher, Schals, Saris und
Punjabis. An meinem letzten Tag wollte ich noch meine letzten Rupien für
Mitbringsel ausgeben. Aber irgendwie konnte ich am Markt einfach nichts
passendes finden – bin aber auch wirklich nicht zum Einkaufen geboren!
Wie auch immer,
mitten im Gewühl habe ich eine Frau mit einem superschönen Schal
gesehen. Tja, natürlich habe ich sie angesprochen, wo sie den her hat –
natürlich vom anderen Ende der Stadt… Aber wir sind in Kalkutta, der
Stadt mit den freundlichsten Menschen von ganz Indien, und sie hat mir
angeboten, mich dorthin zu bringen. Ausgestattet mit großem Mercedes und
eigenem Fahrer haben wir uns auf den Weg in den Süden Kalkuttas gemacht
zu eben diesem Geschäft, und natürlich hat Rita, meine neue indische
Freundin, für mich das Verhandeln übernommen.
Nach getaner
Arbeit hat sie mich wieder zurück an die Metro gebracht! Wow –
Widerspruch war eh zwecklos – "it´s my town. I help you, you are my
guest now." Wie würde ein Inder unser Deutschland und seine Bewohner
erleben?
Gute Frage –
bin jetzt wieder in good cold Germany und denke genau darüber nach. So
viel Spontanität und Hilfsbereitschaft – befürchte ich – würde Rita hier
leider nicht erfahren. Aber jeder einzelne von uns kann es zumindest
ein bisschen ändern!
So, das war
jetzt mal der letzte newsletter aus Indien. Ich hoffe, es hat euch Spaß
gemacht, mit mir ein bisschen durch Indien zu reisen.
Mal sehen,
was es das nächste Mal wird!